Die verlässlichste Methode, mit der ich feststelle, ob ein Ort lebenswert ist oder nicht, besteht darin, gar nicht erst darüber nachzudenken. Es gibt tausend Verrichtun gen des täglichen Lebens, die das Zeug hätten, mich zweifeln zu lassen, ob der Ort, wo ich mich niedergelassen habe, über ausreichende Lebensqualität verfügt. Aber sie kommen nur zum Vorschein, wenn sie nicht verlässlich erledigt werden. Text: Christian Seiler Zum Beispiel mag ich es gern, wenn zu Hause das Licht nicht flackert, weil die Stromspannung aus technischen Gründen schwankt, und mir ist es auch eindeutig lieber, wenn die Fernwärme funktioniert, die meine Wohnung beheizt. Sobald im Supermarkt im Butterregal gähnende Leere herrscht, runzle ich meine Stirn und frage, ist das Euer Ernst jetzt? Und klar bringe ich auch das unver meidliche Beispiel, das immer herhalten muss, um die Qualität einer Stadtverwaltung zu beurteilen: die funk tionierende Müllabfuhr. Es müssen ja gar keine stinken den Müllberge auf dem Trottoir liegen wie in Neapel, wo in solchen Fragen immer die Mafia ihre Finger im Spiel hat. Mir reicht es schon, wenn ich wie in New York am Müllabfuhrtag zwischen schwarzen Müllsäcken auf der Straße Slalom laufen muss. Auch das zwänglerische Sys tem der Zürcher geht mir auf die Nerven, wo Müllton nen versperrt werden, damit kein Unberechtigter dort seinen Dreck ablädt, wo nur der Dreck der Berechtigten liegen darf. Aber zum Glück muss ich ja darüber nicht nachdenken. Ich schalte meine Schreibtischlampe ein, sie spendet Licht. Ich drehe die Heizung kleiner, mir ist warm genug. Ich hole ein Viertel Butter, um die Sauce zu meinem Essighuhn ein bisschen aufzupimpen, und den Müll trage ich hinunter, und dann ist er weg. Aber worüber denke ich nach, wenn ich nicht nach denken muss? Ich mache mir zum Beispiel Gedanken über mein Leben im kleinen, großen und ganz großen Zusammenhang. Der ganz große Zusammenhang ist der einfachste: Ich verorte mich in der Welt, nehme Anteil an den Nachrichten von hier und dort, lese gute Zeitun gen und Bücher, die mir die Augen öffnen, schüttle den Kopf über mexikanische Grenzzäune und die Arbeits bedingungen in der pakistanischen Textilindustrie, fürchte mich ein wenig vor der digitalen Welt, wie sie der Universalhistoriker Yuval Harari1) beschreibt, freue mich aber über den Gehirnforscher Steven Pinker2), der unablässig Argumente liefert, warum die Welt besser und nicht schlechter wird. Auch den kleinen Zusammenhang habe ich im Griff. Die Familie ist intakt. Meine Freunde sprechen mit mir, ich bekomme Einladungen zum Abendessen, hie und da setze ich selbst einen großen, gusseisernen Topf mit Ossobucco auf und bewirte ein paar Menschen, die mir lieb sind. Darüber hinaus nehme ich mir genug Zeit, um meine eigene Gesellschaft zu genießen, und damit trete ich in die Umlaufbahn jenes großen Zusammenhangs ein, den mir die Stadt bietet, in der ich lebe, ein Zusam menhang, in den ich mich einhülle wie in einen Kokon gut geschnittener Kleidungsstücke. Da ist zum Beispiel die Sicherheit, die mir die Stadt ge währt. Es ist mir wichtig, überall hingehen zu können, wo ich gerade hin will, ohne mir Gedanken machen zu müssen, ob ich damit Kopf und Kragen riskiere. Das ist in ziemlich vielen Städten Europas keine Selbst verständlichkeit. Ich wundere mich über die achsel zuckende Wurschtigkeit, mit der sich Freunde und Bekannte in Berlin, Paris oder Brüssel damit vertraut ge macht haben, gewisse Stadtteile zu meiden, weil sie dort – zum Beispiel wenn sie eine Kippa tragen, manchmal aber auch nur, weil sie eine Frau sind – nicht sicher sein können, ohne Pöbeleien, Anzüglichkeiten oder sogar physische Angriffe davonzukommen. Eine wesentliche Übereinkunft des urbanen Lebens bestand (und besteht) schließlich darin, dass Menschen unterschiedlichster Herkunft und sozialer Klassen in Städten friedlich zusammenleben können, weil Städte als soziale Gefüge elastisch genug sind, allen den Raum zu geben, den sie brauchen, ohne jedoch zuzulassen, dass dieser Raum von einzelnen Gruppen monopolisiert wird. Unter Monopolisierung verstehe ich zum Beispiel die gewaltträchtige Besetzung mancher Pariser Banlieus 1) Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, C.H. Beck 2) Steven Pinker: Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanis- mus und Fortschritt. Eine Verteidigung, S. Fischer B wie … 5