die in diesen fünf Jahren im Hotel Schwärzler zu Gast waren, die erneute Einladung, ohne zu zögern, angenom- men haben. Vielleicht zeigt es aber auch nur, wie groß die Sehnsucht mittlerweile ist, endlich wieder in den Genuss zwangloser Gastfreundschaft in einem offenen Haus in einer offenen Stadt zu kommen. Hier kommt nun der Begriff der „offenen Stadt“ ins Spiel, den ich im Titel verwendet habe. Er soll aussagen, was wir uns alle wünschen, näm- lich endlich wie- der an einem Ort zu leben, an dem alles möglich ist. Schade und gleichzeitig interessant ist, dass dieser schöne und in Zeiten wie diesen sehr inspirierende Begriff etwas mit einer der größten Katastrophen der jüngeren Bregen- zer Geschichte zu tun hat. Diese Katastrophe jährte sich im vergangenen Frühjahr, also mitten im ersten Lock- down, zum 75. Mal. Und weil dafür Menschen verantwort- lich waren, für die Offenheit nichts anderes bedeutete als Schwäche und mangelnde Verteidigungsbereitschaft, kann es nicht schaden, diese Geschichte hier noch einmal in Erinnerung zu rufen: Kurz vor Kriegsende 1945 beschlossen die Ratsherren, Bre- genz nach Artikel 25 der Haager Landkriegsordnung zur „offenen Stadt“ zu erklären. Mit diesem Status wäre die Zusage einer reibungslosen Übergabe an die bereits näher kommende französische Armee verbunden gewesen, die wiederum im Gegenzug die Sicherheit der Einwohner und der aus dem Umland Zuflucht Suchenden garantier- te hätte. Doch die verbliebenen Nazianführer hielten sich nicht an die Erklärung und beschlossen, den anrü- ckenden Truppen bei der Klause – ich stelle mir vor, wie Kafka 35 Jahre zuvor im Zug dort vorbeifuhr – ein letztes Gefecht zu liefern. Welche Folgen dieses widersinnige Ver- halten hatte, ist bekannt. Nach mehreren verstrichenen Ultimaten stiegen französische Flugzeuge auf und bom- bardierten die Stadt. Ein sinnloser Akt der Zerstörung als Reaktion auf einen noch sinnloseren Akt irrationaler Hartnäckigkeit. Hätten all diese Narren regelmäßig gute Bücher gelesen, behaupte ich, sie hätten spätestens zu diesem Zeitpunkt die Waffen gestreckt. Weil gute Literatur den Geist ihrer Leserschaft für die Weltsicht von Menschen öffnet, die nicht so sind wie sie selbst, und sie deren Gefühle, das gilt für ihre Freude und ihren Schmerz, erleben lässt als wären es die eigenen. Das Lesen guter Bücher erfüllt so- zusagen die Funktion eines Empathie-Trainings, von dem manche behaupten, es könne die Menschheit langfristig sogar vom destruktiven Weg abbringen, auf dem sie sich befindet. Schwer zu beweisen, aber ich traue der Literatur diese Wirkung durchaus zu. Genauso wie ich ihr zutraue, ähnlich aussagekräftige Erkenntnisse über die Wirklich- keit hervorzubringen wie zum Beispiel die Mathematik, die Physik oder die Philosophie, nur dass sie diese Er- kenntnisse nicht über Formeln, Experimente oder Thesen vermittelt, sondern über exemplarische Geschichten und sprachliche Bilder, die, egal ob wir sie als fesselnd oder befreiend, als schön oder bedrohlich empfinden, die Auf- gabe haben, uns näher an die Geheimnisse der Existenz heranzuführen. Ob die folgende kurze Geschichte diesen Ansprüchen gerecht wird, sei dahingestellt, aber sie passt, glaube ich, hierher. Vor vielen Jahren schilderte mir der Maler Erich Smodics ein Erlebnis, das er als knapp Vierjähriger Ende April 1945 hatte, und das ihn ein Leben lang beschäftigte. Nach vielen Stunden, die er mit seiner Mutter im Luft- schutzkeller hinter der Herz-Jesu-Kirche verbracht hatte, kam endlich die Entwarnung, und sie konnten wieder nach Hause gehen. Als sie dort ankamen, mussten sie zur Kenntnis nehmen, dass ihr Haus nicht mehr bewohnbar war. Eine Bombe, von der zum Glück nur der Sprengsatz, nicht aber der Brandsatz explodiert war, hatte vom Dach abwärts alle Decken durchschlagen und lag nun als ge- fährlicher Blindgänger im Keller. Doch es waren nicht so sehr die Bombe und die rundum rauchenden Ruinen, die der Bub nie vergessen würde, es waren vor allem die zwei mit Staub, Ruß und Asche bedeckten Männer, die in die- sem Moment gerade eine Art Bahre aus dem Haus trugen, auf der ein ebenfalls von Staub, Ruß und Asche bedeckter kleiner Haufen lag. Was, fragte er sich, war das, was diese beiden Männer inmitten all des Feuers und Rauchs, all der Unruhe und Verzweiflung so vorsichtig, er nannte es andächtig, aus der Gefahrenzone transportierten. Erst Jahre später erklärte ihm seine Mutter, es könne sich nur um ein Nudelbrett gehandelt haben, auf dem ein Strudel- teig lag, den sie zum Zeitpunkt des Fliegeralarms gerade in Arbeit hatte. Sicher war sie sich allerdings nicht. Das Haus stand übrigens in der Brandgasse. Wolfgang Mörth ist Autor von Theaterstücken, Erzählungen und Essays sowie Herausgeber der Literaturzeitschrift miromente. Er lebt und arbeitet sehr gern in Bregenz, freut sich aber schon auf kurze, zwang- lose Grenzübertritte. B wie … 7