Dennoch dürfte mein Einfluss auf die Entwicklung dieser Stadt nur von homöopathischem Ausmaß gewesen sein. Was auch daran liegt, dass ich mich immer schon zu we- nig für das Zentrum der Geschehnisse interessiert habe. Oder anders gesagt, weil ich oft den Unterschied zwi- schen dem Wichtigen und Unwichtigen verkenne und es mir deshalb passieren kann, dass ich im entscheidenden Augenblick den Blick in die falsche Richtung werfe. Dazu Folgendes: Irgendwann im zweiten oder dritten Jahr am Gymnasium stellte uns der Zeichenlehrer die Aufgabe, mit Wasserfarben und Deckweiß ein Bild von jenem Abschnitt unseres Schulwegs zu malen, der uns am besten gefiel. Das Ergebnis meiner Bemühungen ist zwar verloren gegangen, ich weiß aber noch, dass links das Gebäude zu sehen war, in dem damals die Vorarlber- ger Nachrichten gedruckt wurden, rechts der Thalbach, der unter einem großen Baum dahinfloss, und am Ende der Straße – und damit im geometrischen Zentrum der Zeichnung – die Fassade des Gasthofs Fohrenburg, dessen Eingang zugleich der ins Forsterkino war. Warum ich aus- gerechnet diesen Ort und diese Perspektive wählte, weiß ich nicht mehr mit Bestimmtheit, denke aber, es könnte etwas mit meiner schon damals ausgeprägten Leiden- schaft fürs Kino zu tun gehabt haben. Ansonsten glänzte mein Bild nicht mit malerischen Höhepunkten, soweit ich mich erinnere. Hätte ich allerdings meinen Kopf um 90 Grad nach rechts gedreht, dann hätte mir ein Sujet auffallen müssen, das auch schon William Turner und Egon Schiele zu Bregenz- Veduten inspirierte, nämlich das Deuringschlößle in der Oberstadt. Aber für diesen Blick war ich wohl zu jung und zu einheimisch und deshalb ohne jeden Sinn für die Sehenswürdigkeiten, die gewöhnlich auf touristischen Ansichtskarten abgebildet sind. Wobei die Ansichtskarten von Bregenz diesbezüglich etwas Besonderes waren, wie ich finde. Darauf dominierten nämlich Gegenstände wie das Fahnenrondell mit seinen umliegenden Blumenbeeten und der sogenannte Fischersteg. Bauwerke, deren einzige Funktion darin zu bestehen schien, das Interesse nicht vom Wesentlichen abzuziehen, nämlich von der erhabe- nen Schönheit des Sees, dessen blaue Fläche sich dahinter in der Ferne verlor. Ähnliches gilt im Grunde auch für die wechselnden Bühnenbilder der Festspielaufführungen und natürlich für die Pfänderbahn, ein weiteres beliebtes Ansichtskartenmotiv, denn auch ihre Gondeln führen an einen Ort, von dem aus der Blick zwangsläufig über die Stadt hinweg bis hinaus zum Horizont gelenkt wird. Ich könnte jetzt behaupten, man hätte den Besuchern von Bregenz mit dieser Bildauswahl empfehlen wollen, sich abzuwenden von der Stadt, weil es dort ohnehin nichts zu sehen gibt. Aber das glaube ich nicht. Vielmehr glaube ich, dass der Kampf gegen ein so übermächtiges touristi- sches Argument wie der Bodensee es darstellt, nur schwer zu gewinnen war und bis heute ist. Wäre diese Tatsache ein Anlass zur Klage, dann müsste ich mich auch über jenes Bild beklagen, das ich selbst hin und wieder vermit- telt habe, wenn in meinen Texten Bregenz zum Thema wurde. Denn immer spielen darin Beschreibungen von Orten eine Rolle, die sich an den Rändern befinden, und fast immer nehme ich dabei zumindest indirekt Bezug auf den See. Einmal versuchte ich zum Beispiel, die paradoxen Erfah- rungen zu verdeutlichen, die ich während meiner vielen Gänge die Pipeline entlang gesammelt hatte. Ein ande- res Mal philosophierte ich im Zusammenhang mit dem Gschlief über den Begriff der Aussichtslosigkeit. Und ich habe über die Fluchtversuche eines Pubertierenden ge- schrieben, die kurioserweise immer dort endeten, von wo aus es nicht mehr weiter geht, nämlich beim Leuchtturm am Molo. Drei Geschichten, die zudem darauf hindeuten, dass mein Schreiben über die Stadt, in der ich lebe, im- mer ein Schreiben über mich selbst ist; auch im Moment, man möge mir verzeihen, tue ich nichts anderes. „Es gibt keine Orte, es gibt nur Menschen.“ Diesen Satz habe ich mit ziemlicher Sicherheit bei einem der Wiener Kaffeehausliteraten der ausklingenden K&K- Monarchie gelesen, kann es aber leider nicht belegen. Gern lege ich ihn deshalb meinem Bregenzer Vorbild, was die Lebenskunst angeht, in den Mund, denn zu ihm passt er mindestens so gut. Einmal sah ich ihn mit anderen auf einer Terrasse in einem Liegestuhl sitzen. Alle Liegestüh- le waren selbstverständlich zum See hin ausgerichtet, nur seiner nicht. Seinen hatte er verkehrt herum auf- gestellt, damit er sich mit der Dame unterhalten konnte, die neben ihm saß, ohne dass sie, die nicht mehr die Jüngste war, dauernd den Kopf nach ihm drehen musste. Menschen wie er sind es, die für mich, wenn so etwas überhaupt möglich ist, die Anziehungskraft eines Ortes verkörpern. Und sie sind es, deretwegen ich meine Ent- scheidung, hierher zurückzukehren und hier zu bleiben, nie bereut habe. Wolfgang Mörth ist Autor von Theaterstücken, Erzählungen und Essays sowie Herausgeber der Literaturzeitschrift miromente. Er lebt und arbeitet in Bregenz und verlässt den Bezirk, nach eigener Aussage, nur mehr in Sonderfällen. B wie … 7