tionen, desto mehr Rücksicht muss man nehmen, desto mehr Kompromisse müssen geschlossen werden, damit es für alle halbwegs passt. Im Gegenzug verteilt sich bei- spielsweise die Verantwortung für die Kinder auf mehre- ren Schultern. Je kleiner wiederum ein Haushalt, desto beweglicher ist er. Wenn wir weggehen, gewinnen wir womöglich mehr Individualität, verlieren aber die nütz- lichen Eigenschaften der Gruppe. Das Nachdenken über Familie be- deutet immer ein Nachdenken über Gesellschaft. Es ist ein Nachden- ken darüber, wie wir leben wollen. Ich glaube, wenn man fortgeht oder kein klassisches Familienmodell lebt, wird das Wort familiär ungleich wichtiger als das Wort Familie. Familiär ist wie Familie, ohne, dass es Familie sein muss. Es referiert viel eher auf das familia der alten Römer. Man kann mit Freunden ein familiäres Verhältnis haben, mit Angestellten, mit Arbeitskollegen, mit Nachbarn. Und wirklich würde ich sagen, Freunde spielten beispiels- weise im Leben meiner Großeltern eine untergeordnete Rolle. Sie hatten ihre riesige Familie. Ständig gab es ein Kind zu betreuen, die Sonntage waren für Familienbesuche reserviert, die Feiertage eh, und sonst auch alles. Freund- schaften konnte man vernachlässigen und hat es auch getan. Übrigens, und das ist wichtig, nicht unbedingt, weil sie als Familie alle so glücklich zusammen waren. Wenn es um die verschiedenen Faktoren geht, die eine Familie braucht, um glücklich zu sein, dann gibt es, grob gesagt, die inneren, die privaten, für die wir selbst zu- ständig sind – beispielsweise die Pflege unserer Beziehun- gen, die Obsorge für unsere Gesundheit (die körperliche wie die seelische), das Schaffen eines behaglichen Heims – und die äusseren Faktoren, die eine Gesellschaft, die Familienpolitik eines Landes, die ein Staat schafft – eine gute Kinderbetreuung etwa, bezahlbaren Wohnraum, ins- gesamt so etwas wie: attraktiven Lebensraum. Ich wür- de sagen: Je weniger klassisch das Familienleben, desto komplexer sind die Faktoren, damit Glück in einer Familie möglich ist, und desto wichtiger werden die Angebote und Unterstützungen, umso wichtiger wird die insgesamte Lebensqualität, die von außen bereitgestellt wird. Es ist gar nicht so leicht, eine Familie – nach welchem Mo- dell auch immer – in einer glücklichen Balance zu halten, es ist ein kompliziertes Ineinandergreifen von privaten und gesellschaftlichen Bedingungen, damit es gelingt. Würde ich nun eine – literarisch völlig uninteressan- te – klassische, glückliche Familie entwerfen, sähe sie vielleicht folgendermaßen aus: Da sind ein Vater und eine Mutter, einander in Liebe zugetan. Einer von beiden ist verbeamtet (und wenn die Welt untergeht, der Job ist sicher), der andere ist zu Hause, weil er das schön findet. Sie haben genug Geld, vielleicht aus einer Erbschaft, und genug Platz, mit Sicherheit einen Garten, vielleicht gar ein Seegrundstück mit Boot? Sie haben zwei Kinder, bei denen läuft es richtig super, in der Schule sowieso, und auch sonst ist alles paletti. Sie wohnen alle zusammen in einem wundervollen, großen Haus, mit diversen Verwandten, aber nicht so mit Gezanke und Gekabbel, nein, alle sind happy, es ist gesellig, nie ist man einsam, aber wenn man mal seine Ruhe braucht, ist das überhaupt kein Problem, wegen dem Seegrundstück. Es ist einfach rundum schön. Das klingt langweilig? Nach totalem Kitsch? Entspricht nicht der Realität? Veraltetes Modell? Und eh eine Frech- heit, weil es alle die nicht einbezieht, die nicht so privi- legiert sind? Kann schon sein. Tatsächlich kann man nur hoffen, dass wir alle ganz genau so leben – ansonsten ist die Chance relativ hoch, dass uns die politischen Entscheidungen der letzten Monate, sagen wir es diplomatisch, ziemlich aus der Bahn geworfen haben. Kein Kindergarten, keine Schule? Job verloren, Kurzarbeit? Zuhause bleiben, Mensa zu, sonst alles zu, kein Sport, kein Verein, niemanden treffen, keine Jugendhäuser, keine Beratungsstellen, keine Freizeitangebote, Alte, die man im Altenheim einsperrt, Kinder, die man Zuhause einsperrt, Panikmache, Sor- gen und dergleichen mehr – wohl denen, bei denen das Anna-Karenina-Prinzip nicht irgendwann zugeschlagen und einer der Faktoren sie ins Straucheln gebracht hat. Es werden die wenigsten sein. Hat das viele Familien unglücklich gemacht? Ganz sicher. Das ist natürlich super für die Literatur. Ansonsten ist es ein Desaster. Verena Roßbacher hat ein paar Bücher geschrieben, das nächste heißt womöglich „Die Superschnecke“, vielleicht aber auch nicht. Hätte sie ein Seegrundstück, wohnte sie in Bregenz. So halt in Berlin. B wie … 7